Samstag, Oktober 25, 2014

Lesermail (Suizid 4 und 5)

Das Thema der höheren Häufigkeit von Selbsttötungen unter Männern hat zwei weitere Leser zu einer Mail veranlasst. Der eine schreibt mir:

Bei uns gab es vor einiger Zeit diese Diskussion innerhalb der Feuerwehr und der Polizei, und man ist zu folgendem Ergebnis gekommen:

Es gibt Leute, die schnallen sich beim Fahren an, und solche, die es nicht tun. Insbesondere auf längeren Strecken gibt es praktisch niemanden, der mal mit und mal ohne Gurt fährt.

Wenn also jemand mit 160 auf der Autobahn gegen das Tunnelportal fährt – und wir hatten drei solche Fälle im letzten Jahr – und er hatte den Sicherheitsgurt nicht umgelegt, wie es bei diesen drei Fällen war, obwohl seine Frau (ja, es waren alle drei Männer) sagt, dass er nie ohne Gurt gefahren sei, dann weiß man, dass es Selbstmord war.

Warum gehen Männer so vor?

Erstens zahlt die Lebensversicherung bei Selbstmord oft nicht oder erst verzögert, daher muss es ein Unfall sein.

Zweitens schämen sich Männer über den Tod hinaus dafür, dass sie keinen anderen Ausweg mehr wussten.

Drittens wollen sie der Familie die Schande eines Selbstmords ersparen und die Gedanken, die sie sich dann machen müssten.


Und ein Blogger, der seine Texte unter dem Nick "Graublau" veröffentlicht, schreibt mir:

Da ich das Blog Geschlechterallerlei nutze, um über Depressionen und Suizid zu schreiben, sehe ich mich berufen, auch etwas zur Debatte beizusteuern.

Ich verweise auf zwei Quellen:

In der ersten heißt es:

"Suizidversuche werden besonders häufig von Frauen und in jüngerem Lebensalter unternommen. Suizidversuche können oft als 'Hilferufe' interpretiert werden. Sie müssen immer ernst genommen werden, da sie einen Hinweis auf das Vorhandensein ernstzunehmender psychischer Probleme sind. Ungefähr jeder Dritte unternimmt nach dem ersten einen weiteren Suizidversuch und jeder Zehnte stirbt später durch Suizid. Eine Unterscheidung zwischen 'ernsthaften' und 'nicht ernsthaften' Suizidversuchen wird in der Suizidforschung mehrheitlich nicht mehr getroffen."

In der zweiten kann man lesen:

"Wer ist gefährdet? Ein erhöhtes Risiko für Suizidalität besteht bei (...) allen Menschen mit Suizidversuchen, mit suizidalen Krisen oder Suizidankündigungen in der Vorgeschichte (...)"

Jeden Selbstmordversuch, der nicht gelingt, als "unecht" abzutun, hilft also aus meiner Sicht in der Debatte nicht weiter. Ich sehe das sogar viel einfacher: Bei der erhöhten Selbstmordrate von Männern reden wir über Tote. Wie ich schon am 12. September schrieb: "Es ist eine Frage von Leben und Tod. Mehr Unterschied kann es nicht machen."

Demgegenüber fallen Selbstmordversuche in der Wichtigkeit ab. Natürlich sind auch sie ernstzunehmen – alleine aufgrund der zitierten Zusammenhänge.

Allen Ernstes jedoch mit "beinahe toten Frauen" die Wichtigkeit von "tatsächlich toten Männern" herunterspielen zu wollen, ist doch ein Musterbeispiel an verinnerlichtem Sexismus oder dem Modell des "entbehrlichen Mannes". Und ganz nebenbei schleicht sich die Abwägung "Männer vs. Frauen" in die Debatte, obwohl es darum ja gerade nicht geht, sondern um erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber einer Gruppe, die um ein Vielfaches häufiger von Selbstmord betroffen ist. Dass sich Männer entweder "effektiver" umbringen (um es mal so zynisch zu sagen) oder seltener zu einem Versuch greifen, um still um Hilfe zu rufen, tut der Dringlichkeit des Problems keinen Abbruch.

Zur Kontrolle, weil ich das immer gerne benutze: Wie wäre es, wenn statt "Männer" dort wahlweise Ausländer/Schwarze/Juden stände?

- "Eine vielfach erhöhte Selbstmordrate unter Ausländern" - da müssen wir etwas tun! Was ist Ursache? Fremdenhass, Probleme in der Integration?

- "Eine vielfach erhöhte Selbstmordrate unter Schwarzen" - da müssen wir etwas tun! Was ist die Ursache? Vitamin-D-Mangel aufgrund der Hautfarbe, Fremdenhass?

- "Eine vielfach erhöhte Selbstmordrate unter Juden" - da müssen wir etwas tun! Was ist die Ursache? Antisemitismus?

Sprich, die Frage ist immer relevant, egal wer die konkrete betroffene Gruppe ist.

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